Manchmal schreibe ich Zuschauerkritiken für Schauspiel Stuttgart. Die, die mir selbst gefallen, findest du hier 👇🏻, und alle anderen hier.
ZU «LORBEER (UA)» (vom 07.05.2022)
Muss ein Theaterstück immer eine komplette Geschichte sein — mit dem Anfang, der fortschreitenden Aktion und dem unvermeidlichen unerwarteten Ende? Kann es nicht einfach aus Stoff, Bewegung und Text bestehen? Welchen Text denn? Irgendeinen Text. Einen Text. Einen Text von Ovid, vielleicht? Metamorphosen — Lorbeer — Daphne … immer dieselbe Daphne? Warum eigentlich?
Lasst uns anders anfangen. Also, es war einmal ein König und er hatte eine Tochter, und sie hatte die eisernen Stiefel und die eiserne Tasche, und weiß Gott, was sie alles noch hatte und was mit ihr alles geschah.
Die griechischen Sirenen singen mehrstimmig und verzaubern uns, mesmerisieren, locken in eine Falle. Warum eigentlich die griechischen Sirenen? Vielleicht sind es Vögel mit weiblichen Köpfen — Sirin und Alkonost. Beide haben süße Stimmen. Der Alkonost singt leicht traurige Lieder, die den Gläubigen trösten können. Der Sirin singt ganz lustige und fröhliche Lieder, die für den Sterblichen tödlich sein können. Nein, mögen Sie die Vögel nicht?
Lasst uns einfach alle möglichen Sinne zerschneiden und ordentlich vermischen. Was kommt danach raus? Vielleicht bin ich bloß eine menschenfressende Hexe mit grünen Augen … oder mit roten, wenn ich lange genug weine? Warum Hexe, warum grüne Äpfel, warum Augen — muss ich immer all diese Fragen stellen und alle Antworten darauf wissen?
Ich beobachte einfach die Menschen. Ganz einfache normale Menschen, mit schwingenden Umhängen, mit fließenden Stoffen, die ihre Körper umhüllen und wie Fahnen im Wind wehen. Hier eilt ein Geschäftsmann, da eine schöne junge Frau, vorbei flitzt ein Choleriker, dort eine verspannte Mutter und hier ein verzweifelter junger Mann. Was wollen sie alle von mir? Nichts.
Wenn eine Geschichte anfängt mit „es war einmal“, ich frage doch nicht die ganze Zeit „warum eiserne Stiefel?“, „warum Minarett und Schlange?“ Nein, ich höre einfach zu und lasse es auf mich wirken wie ein Märchen. Warum soll es jetzt anders sein?
Gedanken, Gedanken, sie kreisen im Kopf und lassen nicht fühlen, sie stören mich. Was fühle ich? Wann fühle ich? Wenn ich Hunger habe oder wenn ich liebe oder hungrig nach Liebe bin. Stört mich das nicht? Wenn zu viel Gefühl, Leib, Intimität vorkommt, klemmt etwas für einen kurzen Moment, bis sich wieder alles normalisiert und routiniert. Dann spielen keine Rolle mehr weder Sinn noch Bedeutung noch Kontext. Alles war schon einmal, alles wiederholt sich ständig und wird wiedererkannt. Oder eben nicht.
Mir fehlen die Worte. Was sind schon Worte — was kann ich mit ihnen beschreiben? Soll ich überhaupt? Worte sind wie Schlangen — sie gleiten, werfen Ringe, manchmal beißen sie tödlich. Welche Schlangen meinst du jetzt? Die ganz alte von Eden? Oder die Schlange, die zwei Halbwüchsige ganz umsonst getötet haben, obwohl sie eigentlich keine Schlange, sondern nur eine harmlose Natter war? Oder vielleicht ist es die Schlange, die ein unsterblich verliebter Zauber ist, der zunächst für seine Liebe seine Augen geopfert und dann seine Mutter getötet hat? Oder vielleicht ist das sich am eigenen Schwanz beißende Schlange? Welche magst du am liebsten? Such dir eine aus.
Metamorphosen, Verwandlung — was geschieht, wenn der Körper verdunstet, der Sinn verschwindet, in einem Moment des Chaos, als ob es irgendein anderen Moment geben kann, — was bleibt uns? Uns bleiben nur Sprachspiele.
Man nehme ein Kreuz, eine Orgel, schöne Stimmen, erleuchtete Gesichter — ist das schon eine Messe? Spielen Worte noch irgendwelche Rolle, ergeben einen Sinn?
Wir nehmen alle Sinne und schmeißen sie zusammen. Wir spüren, innen und außen, und bleiben immer dieselben, wie wir schon immer waren. Und alles passt und nichts fügt sich. Nichts.
Aus dem Nichts sieht alles falsch aus, und pervers richtig. Deine Kenntnisse sagen es dir, nur woher hast du sie, deine Kenntnisse?
Vielleicht sollte man tatsächlich das Manuskript anzünden — wir wissen doch, dass Manuskripte nicht brennen.
Wir könnten es unendlich weitertreiben und mit Sinn und Unsinn spielen oder auch in Banalität abrutschen. Es gibt nämlich nicht nur Banalität des Bösen. Es gibt auch Banalität der Liebe, denn am Ende bleibt nur noch die Liebe. Vielleicht muss man nicht immer analysieren und darf man ausnahmsweise einfach rezipieren? Oder ANALysieren? Banalisieren? Vielleicht doch rezipieren, auf sich einwirken lassen?
Jeder darf selbst entscheiden, oder?
Die Kostüme erwecken den Eindruck, bei einer Prêt-à-porter-Schau anwesend zu sein. Die Lichtwand löst bildgewaltig sehr unterschiedliche Rezeptionen, je nachdem welche Farbe zu welchem Ton sie annimmt. Der Regisseur hat den Schauspielern sehr komplexe schauspielerische, textologische und vokale Aufgaben gestellt. Ein tausend Splitter klitzekleiner Charaktere, keine einzelnen Rollen, sondern ein ganzes plastisches ineinander gehendes und wieder auseinanderfallendes Subjekt.
ZU «AN UND AUS» (vom 26.09.2021)
Frau A. trifft den Herrn Z. Seine Ehefrau, Frau Z., trifft den Herrn Y. Und dessen Ehefrau, Frau Y., trifft den Herrn A. So fängt eine Liebesgeschichte an. Eine „Liebesgeschichte“ hört sich ziemlich flach an, wenn wir von ihr nur hören. Klar, alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich. (Leo Tolstoi: „Anna Karenina“) Wirklich? Und wenn es deine Liebesgeschichte ist? Wenn du mittendrin steckst? Immer noch langweilig?
Wer will dich sehen, wenn du zwei Köpfe hast? Wer will dich küssen, wenn du keinen Mund hast? Wer will dich lieben, wenn dein Herz bereits verbrannt ist? Findet sich irgendwo auf der Welt überhaupt ein Mensch, der dich haben will?
Wenn die Leinwand immer nur leer ist, ist es unmöglich, in einem falschen Film zu sitzen. Dann sind alle Filme richtig und falsch gleichzeitig.
Zwei junge Menschen treffen sich, sie sehen sich und verlieben sich. Ihre Liebe ist frisch und rührend, wie eine junge, neue Liebe es sein kann. Sie passen zueinander vielleicht so gut, wie ein Wal zu einer Biene passen würde. Sollten sie es lieber direkt lassen? Letztendlich hat jeder sein eigenes Leben, Karriere, wichtigen Posten, den man nicht verlassen kann. Muss man nicht um eigene Liebe kämpfen, sich opfern? Wenn alle sich für die Liebe opfern, wer bleibt noch zum Lieben? Man-man-man-man-man…
Alptraum eines Mannes — vor seiner Geliebten lächerlich zu erscheinen. Alptraum einer Frau — ihren Liebsten nicht zu erkennen, zu verpassen. Haben die zwei eine Chance? Schaffen sie es noch, bevor es knallt? Und dennoch, sollen sie sich überhaupt treffen oder ist jede Liebesgeschichte von Anfang an zum Scheitern bestimmt? Und wenn schon — vielleicht doch, lohnt es sich, zu riskieren, solange es noch nicht knallt?
Der Junge, der zugleich ein Hafenarbeiter und Kapitän-der-Montagsaffären ist, weist allzu gut, wie die Liebe enden kann — in einem seiner Hotelzimmer. Wer trifft sich da jeden Montag? Eine junge schöne Frau, müde vom ewigen Schweigen ihres Mannes, trifft sich mit einem Fremden, der gerne über seine Träume spricht. Eine reife Frau, müde von ihrem alternden Körper, trifft einen jungen ambitionierten Geschäftsmann, der einfach nur geliebt werden will. Eine Intellektuelle, müde von ihrem Sportsfreund, trifft sich in der Hoffnung … ah, egal mit wem, Hauptsache — es trifft sich zusammen. Na ja, ein Fisch und eine Motte — es trifft sich viel besser, oder?
Hast du einen Knall? Du triffst dich mit einer fremden Frau in einem Hotel, unwissend, dass deine eigene Frau im Nachbarzimmer, nur durch eine dünne Wand von dir getrennt, mit einem fremden Mann im Bett auf einen Knall wartet?
Hat es schon geknallt? Du merkst plötzlich, dass alles eigentlich OK ist und gleichzeitig nichts mehr stimmt. Warum schrecken die Menschen nicht von dir zurück? Du bist nicht mehr du selbst — sehen sie es denn nicht? Warum tun sie alle so, als ob nichts passiert wäre? Nur deine alte Liebe, die bekannterweise nicht verrostet, sieht ganz genau, dass du dich plötzlich in einen Fisch verwandelt hast oder versteinert bist. Deine alte Liebe sieht dich. Aber du bist ihr jetzt egal.
Versuch es als Mann, einer Frau zu erklären. Können hier vielleicht noch Worte helfen? Welche Worte? Wessen Worte, wenn du keinen Mund mehr hast und dich selbst nur ein wirres Zeug reden hörst? Und lächelst.
Versuch es als Frau, den klaren Kopf zu behalten. In der Ruhe liegt die Kraft. Kannst du noch ruhig bleiben, wenn deine Gedanken gefühlt durch gleich zwei Köpfe rasen und du dich selbst gleichzeitig von innen und von außen, wie im Spiegelbild, beobachtest? Und sprichst.
Ein Knall, ein Super-GAU — passiert es so selten im Leben? Es heißt, zwischen Liebe und Hass liegt nur ein Schritt. Ein kleiner Schritt, der nicht rückgängig gemacht werden kann. Kühlschränke halten ewig, wenn sie nicht durch die Luft geschleudert werden, sagte mal ein Elektrogeräteverkäufer zu einem frisch verliebten Pärchen. Und was passiert, wenn doch? Da bleibt es nur, zu zweit in einem Aschenregen zu stehen und zusehen, wie der Rest der Welt zugrunde geht. Zu zweit.
Dann spielt es wirklich keine Rolle, Fukushima oder Tschernobyl oder sonst noch ein Knall. Letztendlich ist jeder Knall nur irgendwas mit Wellen.
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Während schauspielerische Arbeit gut war und die finale musikalische Szene im Meeresrauschen ihren besonderen Charme hinzugefügt hat, war der Eklektizismus der Inszenierung manchmal, insbesondere am Anfang, nicht gelungen und verwirrend. Zu viel von Farce hat die Magie des Stücks beinahe zerstört. Das gekonnte Spiel des Ensembles hat es zum Glück zu einem spannenden, wellenartigen Abwechseln zwischen Groteske und Ästhetik, Drama und Komik gebracht.
Das Szenenbild verdient eigenen Lob. Das Stück ist unter anderem sehr ästhetisch und plastisch geworden. Auch ganz ohne Ton wäre die Inszenierung als reine Bilderreihe sehenswert.
Ein sehr schönes, metaphorisches und vielschichtiges Stück, das wie ein Meer dich eintauchen lässt, so tief, wie du es selbst wagst.